Eine Annäherung an das Jahresthema 2022
Essay von Rabika Hussain
Die Zukunft ist die Zeit, die nach der Gegenwart folgt. Sie beschäftigt uns und bestimmt unseren Alltag. Es entstehen verschiedene Assoziationen mit dem Begriff: Hoffnung, Angst, Sorge. Mittlerweile wird uns bewusst, wie eng sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft stehen. Beim Überlegen, was mit der »Rückseite der Zukunft« eigentlich gemeint ist, wurde eine Lawine von Impulsen ausgelöst. Der erste Gedankenball kam im August 2021 und flog weiter, er wurde so oft unter den Künstler:innen weitergeworfen, bis ein ganzes Netzwerk an Bällen entstand. Zunächst folgt eine Zusammenfassung dieser Bälle:
Wenn wir uns den Begriff der Rückseite anschauen, wird eindeutig: Eine Rückseite muss eine Vorderseite besitzen. Wir können die Rückseite nicht bestimmen, ohne die Vorderseite miteinzubeziehen. Die Rückseite hat hierbei mehrere Synonyme: Kehrseite, Abseite, Hinterseite. Sie bezieht sich lediglich auf die räumliche Dimension. Wir stellen uns ein Blatt Papier mit Vorder- und Rückseite vor. Wenn wir es zerknüllen, entstehen jedoch mehrere Seiten. Entstehen auch mehrere Dimensionen? Die Rückseite ist nicht wahrnehmbar, sie ist ein Geheimnis, so drücken es zumindest mehrere Künstler:innen in ihren Bällen aus. Vielleicht hilft uns das Bild einer Theaterbühne zur Veranschaulichung. Was auf der Bühne passiert, ist der Vordergrund, die Vorderseite. Ein Theaterstück wird auf der Vorderseite inszeniert, welches durch die Halterungen und Einstellungen im Hintergrund ermöglicht wird. Der Blick hinter die Kulissen offenbart die Funktionsweisen des Systems. Während des Theaterstücks bleibt die Rückseite jedoch versteckt. Nun thematisiert das Jahresthema genau dieses Versteckte.
Was meint also die «Rückseite der Zukunft«?
Genau können wir das nicht bestimmen. Mögliche Deutungen werden in den Bällen formuliert. Eine Künstlerin merkt an, dass die Rückseite der Vorderseite entgegenwirkt. Die Vorderseite der Zukunft ist bestimmt durch die steigenden bzw. endlosen Leistungserwartungen an die Menschen und an die Erde. Die Vorderseite ist ein geschaffenes Konstrukt, ein Ordnungsprinzip, welches Konsequenzen hat. Die Rückseite(n) veranschaulichen sie: Auswirkungen wie die Ausbeutung von Ressourcen, den anthropogenen Klimawandel, die konsequente Missachtung der Menschenrechte und die Ignoranz gegenüber den Lebenschancen für nachfolgende Generationen. Letztendlich demonstrieren die Rückseiten den unvermeidbaren und allmählichen Zusammenbruch der Vorderseite.
Die »Rückseite der Zukunft« hat eine gewisse melancholische Konnotation, wie es in einem Ball formuliert wird. Gestern war heute die Zukunft und morgen ist gestern die Vergangenheit. Sie ist bereits bestimmt und festgelegt. Der Wandel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft passiert oft unbemerkt.
Vielleicht ist die »Rückseite der Zukunft« aber gar nicht wahrnehmbar? Die Vorderseite der Zukunft ist der jetzige Wahrnehmungshorizont. Die jetzige Diskussion über unsere Zukunft konstituiert die Vorderseite. Hier werden Erwartungen und Befürchtungen begründet. Was könnte also die Rückseite sein? Da sie nicht sichtbar, nicht wahrnehmbar ist, muss sie der großen Mehrheit der Gesellschaft verborgen sein. Ist sie die Allegorie über unser Erleben der Zeit? Diese Betrachtungsebene heben mehrere Künstler:innen hervor.
Die Zukunft ist ebenso ein Gedankenkonstrukt, ohne dessen unser Handeln nicht denkbar wäre. Das Gesicht der Rückseite aus bisherigen Zeitabschnitten kann uns Erkenntnis über die »Rückseite der Zukunft« geben. Nur anhand von bisherigen Erfahrungen können sichere Aussagen getroffen werden. So wird die Rückseite der Zukunft zur Vorderseite der Vergangenheit. Aber Vermutungen und Prognosen zeigen womöglich nur unsere Voreingenommenheit, so formuliert es ein weiterer Künstler. Denn die Unvorhersehbarkeit bestimmt das Wesen der Zukunft. So kann die Rückseite nur vage bestimmt werden. Wir wissen nicht, was sich tatsächlich auf der Rückseite abspielt. Die Meinungen spalten sich hier. Doch selbst die deutsche Sprache geht auf die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ein. »Wir werden die Zeit hinter uns gelassen haben.« Wir werden, aber haben wir es schon? Sind wir uns sicher?
Schlüssig erscheint lediglich die Tatsache, dass wir uns im Jetzt befinden. In der Zukunft ist die Vergangenheit das Heute. Die Verhandlung, Auseinandersetzung und Entdeckung des »Jetzt« bestimmen die Zukunft, so sind sich viele einig. Der nächste Gedankenball ruiniert uns die letzte Sicherheit. Die wenigen Sekunden, die für uns den Moment darstellen, sind bereits verflogen. Selbst die Gegenwart ist somit kaum fassbar. Das Paradox des Unfassbaren scheint sich allmählich zu bestätigen.
Was heißt das nun für EULENGASSE und die Ausstellungsplanung, wenn die »Rückseite der Zukunft« nicht genau bestimmt werden kann?
Wenn wir uns die Auseinandersetzung mit der Zukunft aus historischer Sicht anschauen, kommt uns die Epoche des Futurismus entgegen. Die avantgardistischen Künstler*innen bezogen sich auf Motive wie Dynamik, Tempo und das technisierte Leben, dabei vertraten sie teilweise faschistische, kriegsverherrlichende und frauenverachtende Einstellungen. Eins ist klar: Entschieden kritisieren wir diese Perspektiven und lenken den Fokus weg vom Blick auf die Zukunft. Es soll der Blick dahinter thematisiert werden. Mit dem Jahresthema »Rückseite der Zukunft« möchten wir uns künstlerisch mit gegenwärtigen Phänomenen auseinandersetzen. Die Künstler:innen formulieren: Es geht um die tiefsten Ängste und Hoffnungen unserer Gesellschaft, möglichen Perspektiven für die Zukunft, die Notwendigkeit des Handelns und das Schaffen einer Visibilität für Vorgänge, die auf der Rückseite, wie wir sie auch definieren, passieren. Die »Rückseite der Zukunft« soll jede Möglichkeit nutzen, um die Konsequenzen unseres Zukunftssystems ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken. Wir stellen uns die Frage: Wie können wir künstlerisch Perspektiven und Szenarien erschaffen, um das Nachdenken über die Art, wie wir in Zukunft leben wollen, anzuregen, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben?
Für uns und das kommende Ausstellungsjahr ist es somit von Bedeutsamkeit, jegliche Art von Missständen, große und kleine, zu erkennen und zu benennen. Bereits in der Vergangenheit wurden die Aspekte der Zeit (Zukunft) und des Raums (Rückseite) zusammengebracht. Die Kunst beschäftigt sich mit der Verräumlichung von Zeit, d. h. Ereignisse, Prozesse und Gedanken werden materialisiert. Die Aussage spiegelt sich in mehreren Gedanken wider. Als Künstler*innen agieren wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit und die Zukunft hinein und wieder heraus. Sowohl Erinnerungen als auch Erwartungen können wir verdichten. Mit unserem Körper sind wir im Jetzt anwesend, wohingegen unsere Gedanken in andere Zeiten reisen können. Die Künstler:innen schlagen vor: Nutzen wir die Zukunft als Chance und die Vergangenheit als Schatz, um die Ohnmacht der Gegenwart zu entkräften. Denken wir aus dem Selbstverständlichem heraus und arbeiten aktiv, um uns der Wirklichkeit zu öffnen.
Unser Netzwerk der Gedankenbälle stellt den Anfang des Ausstellungsjahr, der künstlerischen Arbeiten dar. Die Anschauungen tragen zum »Feuerwerk der Vielfalt« bei und geben dem Jahresthema ihre besondere Bedeutung. Im bisherigen Verlauf gingen die Meinungen mehr als nur einmal auseinander und das ist richtig so. Die Auseinandersetzung mit der Begriffsdeutung soll keinen Endpunkt erreichen. Die »Rückseite der Zukunft« benötigt diesen künstlerischen Freiraum ohne eindeutige Definitionen oder anderen einschränkenden Konventionen. Letztendlich wissen wir, dass es eine Zukunft ohne uns geben wird. Nur unsere materialisierten Gedanken werden verweilen.
Hier sollen die philosophischen Erörterungen enden und die Fantasie anspringen.
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