es ändert sich gerade was

Jahresthema 2016

Nachdem wir uns im Jahr 2015 intensiv mit Aspekten des menschlichen Wesens und dem künstlerischen Sein, dem »ICH« auseinandergesetzt haben, soll uns im Jahr 2016 ein neues Thema durch das Jahr geleiten. Die Diskussion unter uns Mitgliedern von EULENGASSE über ein neues Jahresthema wurde im Sommer und Herbst 2015 überlagert durch die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Flüchtlingskrise. Das Ergebnis dieses Diskussionsprozesses ist in mehreren Sitzungen erarbeitet worden. Wir haben keinen einfachen schlagwortartigen Begriff gefunden. Vielmehr breitet sich ein Feld verschiedener miteinander verwobenen Themen aus. Wir haben dies mit dem Dreiklang »Grenzfall — Territorium – Wandel« gefasst.

Das Jahresthema 2016 mit dem offenen Titel »es ändert sich gerade was« bietet keine direkten Hinweise, es ist kein eindeutiger roter Faden. Vielmehr spiegelt sich darin die wahrgenommene Komplexität der Welt wieder. Das Jahresthema bezieht sich auf die konkrete jetzige Situation, mit der Menschen in dieser Welt, hier bei uns in Frankfurt und überall klarkommen müssen. Unter diesem Jahresthema »es ändert sich gerade was« wollen wir in verschiedenen Ausstellungen und begleitenden Veranstaltungen soziale, wissenschaftliche und geopolitische Fragestellungen verhandeln.

Der öffentliche Raum als Keimzelle, Ausgangspunkt und Aktionsfläche unseres sozialen Verhaltens wird dabei als zentrales Element für die Wahrnehmung unserer Aktivitäten dienen. Der Kunsthistoriker Hanno Rauterberg schreibt über das Bedürfnis, sich im öffentlichen Raum selbst zu erfahren: er beschreibt, in welchem Maße die digitale Welt und das Internet Eingang gefunden haben in die tagtägliche Lebenswelt der Menschen. Und gerade diese Omnipräsenz der digitalen Technik, die überall ihre Sensoren hat und der nichts mehr zu entgehen scheint, weckt – so Rauterberg – in manchen das Bedürfnis, dem unsichtbaren Überall des Netzes ein konkretes, körperlich spürbares Hier und Jetzt entgegenzusetzen. Rauterberg sagt, dass die Gestimmtheit eines Raumes, alles Intuitive, mit dem ein Mensch die Atmosphäre eines Platzes erspüren und sein Gegenüber erfasse, der Wirklichkeit existierender Orte vorbehalten bleibe. Erst im Körper der Stadt, im öffentlichen Raum bekomme der Mensch die eigene Körperlichkeit zu spüren.Im folgenden sind verschiedene Ansätze skizziert, die so oder in ähnlicher Form Ausstellungen beziehungsweise Veranstaltungen von EULENGASSE e.V. formen könnten, die sich mit den jeweiligen Aspekten auseinandersetzen.

»Vom Ich zum Wir«
Gibt es ein Leben nach dem Ich? Das fremde Wir klopft an unsere Türen, begehrt Einlass und Schutz. Unser eigenes territoriales Wir ist bereits heute nicht mehr das, was es gestern noch war. Mehr noch: Es wird es auch nie wieder sein. – Wie es dem fremden Wir geht, wissen Wir nicht. Wollen es vielleicht auch gar nicht. Vielleicht geht es im Grunde nur um das Ich. Jedoch: Das Wesentliche gerät in Vergessenheit: Den Schritt vom Ich zum Wir zu wagen.

»GRENZFALL«
Gibt es bereits Künstler bzw. künstlerische Positionen, die sich mit den sich ausbildenden Ausformungen des zukünftigen sozialen Miteinanders in einer viel-kulturellen Deutschland auseinandersetzen? Es gibt vielerlei Ebenen für die diskursive künstlerische Auseinandersetzung mit Grenzen, Grenzüberschreitung, mit Angst, Aggression, Protest und Widerstand. Eine Ausstellung zu GRENZFALL (im doppelten Wortsinn) könnte aber auch auch mit Horizonterweiterung, Integration und Toleranz künstlerische Antworten geben.

»HEIMAT?«
Was ist das, Heimat? Ein Ort (Territorium), eine Herkunft (Kultur), ein Eingebundensein in eine Gemeinschaft? Oder ist ein Gefühl der Geborgenheit, der Freiheit, der sein zu dürfen, der man ist, ohne Ausgrenzung zu fürchten? Ein zentrales Motiv, das (nicht verwunderlich) mit der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage eng verknüpft scheint: Die eigene Identität als Unterscheidung zum fremden »Anderen« mit den damit verbundenen Verlustängsten, Abgrenzungen oder möglichen Hoffnungen.

»Drehscheibe«
Der Flughafen gilt als Drehscheibe, die in alle Welt führt. Und die mit Schmierseife bedeckte Drehscheibe aus sportlichen Wettbewerben der siebziger Jahre zeigt den Vorgang sehr drastisch. Während die Töpferscheibe den wunderbaren Vorgang der Formbildung aus der unförmigen Tonmasse ermöglicht. Drehscheibe ist ein positiv zu verstehendes Wort.

»Klimawandel«
Mit dem Begriff Klimawandel soll der Versuch unternommen werden, fünf Aspekte des aktuellen Zustands der Welt in all ihren Facetten zu befragen: der durch den Menschen verursachte Klimawandel in der Natur, der Klimawandel in Bezug auf die Verhältnisse zwischen den Nationen, der Klimawandel für die Flüchtlinge, der Klimawandel in den westlichen Gesellschaften, der durch die digitale Revolution verursachte Klimawandel.

»Gender«
Religion, Ritual und Alltag. In allen drei genannten Lebensfeldern sind wir Menschen Mittelpunkt, und dabei hat das biologische Geschlecht eine wichtige Rolle. Aber auch das »soziale« Geschlecht, die soziale Rolle ist wirkmächtig. Im Rahmen einer Ausstellung soll über Fragen der Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft und säkularisierten Kultur nachgedacht werden, die doch durchtränkt ist von Ritualen (z.B. des Berufslebens), aber auch von Religion (häufig in romantisierten Fragmenten wie zu Weihnachten) und dominiert ist von einem »organisierten« Alltag.

»Territorium«
Nicht der Raum bestimmt unser Leben, wir bestimmen den Raum, in dem wir leben, Lebensräume, Territorien. Anknüpfend an eine Ausstellung, die im April 2015 in Stockholm gezeigt wurde, sollen nun Raum, Ort und Begegnung vor allem unter geo-politischen Vorzeichen künstlerisch erforscht werden. Mit der Fotografie kann sehr treffsicher nachgewiesen werden, in welcher Form der Mensch von der Stadt Besitz ergreift, wie er sie zu seinem Territorium macht.

Jo Albert sagte: »Die Auflösung von kategorialen Systemen führt zu großer Unsicherheit.«

es ändert sich gerade was – tasten wir uns heran, untersuchen wir doch auf künstlerischem Wege einige Aspekte des oben skizzierten Spannungsfelds. Auch wenn wir dabei nicht erschöpfend sein können. Wir blicken mit kritischem Blick auf dieses virulente tagesaktuelle Thema von Flucht und Vertreibung. Aber wir lassen uns auch distanziert auf andere Fragestellungen ein, die außerordentlich vielfältig sein können, die sich ortlos weiterentwickeln. Und die immer die Frage nach Begegnung aufwerfen.

Im Dez. 2015
Stellvertretend für die kollektive Erarbeitung: Mrs. Velvet G.Oldmine, Almut Aue, Helga Marx, Carolyn Krüger, Brigitte Kottwitz, Klaus Bittner, Vládmir Combre de Sena, Harald Etzemüller.